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FriedeNOW Schülerzeitung
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Wir kommen bald nach!

 Der 9. November ist für viele Menschen in Deutschland ein schöner Tag, denn an diesem Tag wurde das von einer Mauer geteilte Deutschland wiedervereinigt.
Doch man muss auch an die früheren Ereignisse an diesem Tag denken, zum Beispiel die Pogromnacht. Und in dieser Nacht beginnt meine Geschichte.

Ich wachte auf, denn ich hörte laute Stimmen auf der Straße und Scheiben klirrten. Ich rannte ins Schlafzimmer meiner Eltern und kuschelte mich an sie und meine kleine Schwester Selma. Wir zogen alle Gardinen zu und warteten bis es vorbei war. Am nächsten Morgen wachte ich zwischen meine Familie gequetscht auf. Auf dem Weg zur Schule sah ich eingeschlagene und bekritzelte Fensterscheiben von jüdischen Läden. In der Schule merkte ich gleich, dass etwas anders war. Meine beste Freundin Greta wollte auf einmal nicht mehr mit mir spielen. Frau Rüdenberg begann die Stunde damit, dass wir eine Partnerarbeit machen sollten. Normalerweise will Greta immer mit mir arbeiten. Doch heute fragte sie Elisabeth. Ich war zwar traurig, aber versuchte mir einzureden, dass es nichts Persönliches war. In der Pause jedoch wollte niemand mit mir spielen. Ich setzte mich allein auf eine Bank auf dem Schulhof und dachte mir selbst Geschichten aus. Als ich nach Hause kam, sah Selma genauso geknickt aus, wie ich. Eigentlich mochte sie die Schule immer gerne und hatte viele Freunde. Doch man sah es ihr sofort an, dass nichts wie immer war. Beim Abendbrot erzählten uns unsere Eltern, dass wir alle vier nach England fahren würden. Doch wir sollten erstmal vorfahren und sie würden nachkommen. Natürlich waren wir nicht so begeistert von der Idee. Doch ich zeigte meine Enttäuschung nicht, um Selma nicht zu beunruhigen. Abends lag ich weinend im Bett. Mir gingen so viele Sachen durch den Kopf. Wieso wollte Greta nichts mehr mit mir zu tun haben? Wieso sollte ausgerechnet ich nach England? Wieso können Mama und Papa nicht mit? Und wie würde unser Leben in England wohl sein? In dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen.

Zwei Wochen später standen wir schon mit gepackten Koffern am Bahnhof. Selma und ich waren noch nie vorher mit dem Zug gefahren. Das machte unsere Aufregung noch größer. Mit lautem Prusten fuhr die Dampf-Lokomotive in den Bahnhof ein. Mama begleitete uns in den dunkelgrünen Waggon. Gab uns beiden ein Kuss und flüsterte mir ins Ohr: „Ich hab dich lieb! Passt auf euch auf! Wir kommen bald nach.“
Die Fahrt war lang und wir waren viel zu viele Kinder in einem Waggon. Selma weinte viel, denn sie vermisste unsere Eltern.

In London wurden wir in Pflegefamilien eingeteilt. Zum Glück wurden Selma und ich zusammen in eine eingeteilt. Wir haben eine relativ reiche Pflegefamilie erwischt und hatten ein eigenes Zimmer, das groß genug für uns zwei war und viel Platz zum Spielen hatte. Wir hatten alles, was wir uns jemals gewünscht hatten: Puppen, schöne Bücher, Buntstifte und Papier. Es gab sogar Kuscheltiere und im Garten hing eine Schaukel. Trotzdem saß Selma meistens in der Ecke des Zimmers und schaute die Wand an. Jeden Morgen lief sie dem Briefträger entgegen. Der Tag, an dem der Brief unserer Eltern kam, war schöner, als Geburtstag und Chanukka zusammen. Unsere Eltern schrieben:

„Liebe Esther, liebe Selma, uns geht es gut in Berlin. Wir sind uns sicher, es wird nicht mehr lange dauern, bis wir bei euch sind. Wir sind in eine neue Wohnung gezogen. Papa hat auch eine neue Arbeit bekommen. Er arbeitet nun als Maschinenbauer für Lokomotiven. Ihr lacht vielleicht, wenn ihr ihn euch in seinem weißen Arztkittel in der schmutzigen Werkstatt vorstellt. Ihm macht die Arbeit aber Spaß. Wir hoffen sehr , dass es euch gut geht und Frau und Herr Rosenherz euch gut aufgenommen haben. Ihr wisst, dass wir euch für immer lieben. Es küssen euch, Mama und Papa“

Ab dem Tag packte Selma jeden Tag aufs Neue ihren Koffer und stellte ihn neben die Haustür in der Erwartung, dass unsere Eltern uns jeden Moment abholen würden. Als unsere Eltern nach einem Jahr immer noch nicht kamen, glaubte ich nicht mehr dass ich sie jemals wieder sehen würde.
Trotzdem hatten wir eine schöne Kindheit in London. Wir gingen in die Schule, hatten Freundinnen, mit denen wir spielten, lernten Instrumente und begannen schließlich sogar ein Studium. Und all die Momente, in denen wir nicht voller Sehnsucht warteten, waren ganz normale, waren oft auch glückliche Momente.
Ich habe mit meiner Schwester heute ein sehr gutes Verhältnis.
Und wenn ich sie besuche, steht immer noch der kleine gepackte Koffer an der Tür.

Natürlich ist diese Geschichte nur ausgedacht, doch sie beruht auf echten Ereignissen.

Von Karlotta